Schreibwandern ist

Natur.

Poesie ist eine Qualität des Erlebens und Wahrnehmens. Denn Schreiben und Wahrnehmen stehen in einem Wechselverhältnis: Schreiben macht achtsam. Und die achtsame Wahrnehmung nährt unser Denken und unsere Sprache. Wahrnehmen und zu einem sprachlichen Ausdruck bringen: Impression und Expression befinden sich in einem ständigen Dialog.

Schreibwandern ist ein Weg, sich der Poesie der Natur wieder bewusst zuzuwenden. Sich davon faszinieren lassen zu können. Dazu dient eine «poetische Sichtweise», die wir alle in uns tragen, wenn wir sie (wieder) zulassen. Sie ist ein Versuch, sich der Welt «eingeboren» zu erleben, wie der Biologie und Philosoph Andreas Weber schreibt.

Die Sinneseindrücke manifestieren sich beim Schreibwandern durch unsere Kreativität als sprachliche Ausdrücke. Unser Echo an die Welt.

Sich als Teil eines sinnlichen Ganzen zu fühlen und entsprechend zu handeln: Das ist keine verklärende Romantik, sondern auch ein (um)weltlicher Alternativweg zum Weitergehen wie bisher.

Verbundenheit.

Schreibwandern stellt unsere Sinne scharf: Wir reagieren auf das, was ist. Und nehmen es in uns auf: wach, neugierig, urteilsfrei und gegenwärtig. Wir atmen gehend Welt ein und schreibend unsere Sicht auf die Welt aus. Und stellen dadurch gekappte Verbindungen wieder her.

Schreibwandern macht uns zu präzisen Beobachter:innen. Das geschieht, indem wir bewusst mit allen Sinnen wahrnehmen, was uns umgibt. Und in uns selbst ist. Wir stellen die Sinne scharf wie bei einem Fernglas: Das Bild hat nicht immer die gleiche Fokussierung. Es kann verschwommen sein oder eingetrübt. Wir können an der Wahrnehmung arbeiten, das Fernglas fokussieren, die Sinne schärfen, bis glasklar sichtbar wird, was ist. Wir können die Perspektive ändern, weitwinklig ein Panorama überblicken. Oder wir können unsere Aufmerksamkeit wie mit einem Teleobjektiv auf einen entfernten Punkt ausrichten oder wie in der Makrofotografie auf ein winziges Blatt vor uns.

Schreiben kann jedoch viel mehr als jedes Fernglas: Wir können uns in eine andere, fremde Perspektive hineinschreiben. In die Aussicht des Adlers, der hoch über den Kreten im Bergwind segelt. Oder wir erleben schreibend die Welt ganz neu aus Sicht einer Ameise, die sich durch ein Bollwerk zu Boden gerieselter Lärchennadeln sucht.

In diesen Aussenperspektiven sehen wir auch: uns selbst. Wir sehen uns in der Natur, als Teil des Ganzen, ganz natürlich verbunden mit allem, was um uns ist. So führt uns Schreibwandern durch die Natur zu uns selbst. Und: Indem wir aus unserer gewohnten Perspektive heraustreten, in Distanz treten zu unserem Ich, sehen wir, wie sich Dinge verändern lassen.

Sein.

Das Sein versteckt sich oft. Denn es scheut Gewohnheit und Tempo. Begegnen können wir dem Sein oft hinter den Dingen und zwischen den Wörtern: Zum Beispiel in den Leerstellen der Tretmühlen des Alltags. Das Sein im Sinne eines präsent und wach wahrgenommenen Augenblicks ist ungemein kostbar. Denn es führt uns weg vom Gedankenschleier der Routine und hin zu einer lebendigen Fülle.

Beim Schreibwandern liegt der Fokus auf dem Weg, der im Hier und Jetzt begangen wird. Schreibwandern ist prozessorientiert, das heisst vorrangig am Prozess interessiert. Fürs Schreiben wie auch fürs Gehen bedeutet das: Dem Weg anstatt dem Ziel die volle Aufmerksamkeit zu schenken und dabei fortlaufend die für den aktuellen Moment stimmige Schreibmethode oder Geh-Art zu wählen. Dabei entstandene Ideen können aber durchaus, wie Steine am Wegesrand, eingesammelt und weiterverarbeitet werden: wie lehmverschmierte, ungeschliffene Kristalle, die durch den Prozess des Schleifens und Waschens ihre strahlende Brillanz bekommen.

In der Präsenz des Hier und Jetzt öffnet Schreibwandern Zugang zu Erfahrungs- und Möglichkeitsräumen. Das sind  «Spielplätze für die Seele», wie Birgit Schreiber in ihrem Buch Schreiben zur Selbsthilfe passend feststellt. Dort können wir uns zurückziehen in geschützte Fluchträume des Alltags, in denen wir entschleunigen, auftanken und uns stärken. Die Seele spielen lassen. Wir können uns in Gestaltungs- und Findungsräume begehen, die uns Raum und Freiheit für (neue) Skizzen von uns selbst bieten. Dort können wir uns austoben, Versionen unserer selbst erschreibwandern und spüren, wie sie sich anfühlen. Wir können Resonanzräume betreten, in denen wir eine heilsame Verbundenheit spüren. Oder wir schleichen uns in Seinsräume, wo wir einfach an- und zur Ruhe kommen dürfen.